Mit seiner Entscheidung vom 24.06.2021 könnte das Bundesarbeitsgericht für einen Erdrutsch im Bereich der häuslichen Pflege gesorgt haben. Es entschied, dass ausländische Betreuungs- und Pflegekräfte, welche in deutschen Privathaushalten arbeiten einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben. Zudem erstrecke sich dieser Anspruch auch auf den Bereitschaftsdienst.
Sachverhalt
Der Entscheidung lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde. Die Klägerin - bulgarische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien - war seit April 2015 bei der Beklagten als Sozialassistentin beschäftigt. Bei der Beklagten handelt es sich um ein bulgarisches Unternehmen, welches die angestellten Arbeitnehmer zur Betreuung und Pflege älterer und pflegebedürftiger Menschen vermittelte. Im Arbeitsvertrag wurde dabei vereinbart, dass die Klägerin 30 Stunden wöchentlich arbeiten sollte, wobei das Wochenende als arbeitsfreie Zeit eingeordnet war. Die Vermittlung erfolgt dabei im Rahmen eines Dienstleistungsvertrages, in welchem sich die Beklagte verpflichtet, mit Hilfe Ihrer Arbeitnehmer Betreuungsleistungen zu erbringen.
Die Klägerin wurde im April 2015 nach Berlin vermittelt und arbeitete dort für einen monatlichen Nettolohn von 950,00 EUR im Haushalt der 90-jährigen, zu betreuenden Person. In deren Wohnung bezog die Klägerin auch ein Zimmer. Ihre Aufgaben umfassten neben Haushaltstätigkeiten (Einkaufen, Kochen, Putzen, …) auch eine Grundversorgung (Hilfe bei der Hygiene, beim Anziehen, …) sowie die soziale Betreuung (Gesellschaft leisten, gemeinsame Aktivitäten, …).
Nachdem es zu Streitigkeiten bezüglich der Freizeit der Klägerin kam, wurde das Arbeitsverhältnis im September 2016 beendet. Die Klägerin erhob im Herbst 2018 Klage und forderte die Zahlung des Ihr noch zustehenden Mindestlohns unter Bezug auf das Mindestlohngesetz (MiLoG). Sie machte dabei geltend, dass Sie weit mehr als die vertraglich geregelten 30 Stunden gearbeitet habe, sondern vielmehr Rund um die Uhr und in Bereitschaft für die Betreute da war. So habe sie auch nachts ihre Tür offen halten müssen um auf Rufe reagieren zu können, da die Betreute nicht in der Lage war, allein das Bett zu verlassen. Die Klägerin begehrte daher die Vergütung nach dem Mindestlohngesetz für die Jahre 2015 und 2016, unter der Berücksichtigung von 24 Arbeitsstunden pro Tag.
Die Beklagte verweigerte die Zahlung, da sie ihrer Meinung nach nur die Vergütung der vertraglich vereinbarten 30 Stunden schulde. Diese Stunden hätten zur Erledigung der geschuldeten Arbeiten ausgereicht. Die darüber hinaus gehenden Stunden wären nicht durch die Beklagte veranlasst worden, zumal auch ein Bereitschaftsdienst nicht vereinbart war.
Entscheidung
Nach dem Arbeitsgericht hatte auch das Landesarbeitsgericht der Klage fast vollständig entsprochen und ist im Wege der Schätzung von 21 Stunden pro Kalendertag ausgegangen. Zwar sei aufgrund des Dienstvertrages zwischen der Beklagten und der Betreuten von einer 24-Stunden Betreuung auszugehen, da die Aufgaben eine ständige Anwesenheit der Klägerin erforderten und dies faktisch einem Bereitschaftsdienst gleich käme. Jedoch habe sich die Klägerin für täglich 3 Stunden von dieser Verantwortung entziehen können um zum Beispiel Telefonaten und der eigenen Hygiene nachzugehen.
Die hiergegen gerichteten Revisionen vor dem Bundesarbeitsgericht haben insoweit Erfolg.
Das BAG bestätigte zunächst die Ansicht des LAG, dass die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns nach §§ 20 i.V.m 1 MiLoG auch ausländische Arbeitgeber trifft, wenn deren Arbeitnehmer für ihre Arbeit nach Deutschland versendet werden. Es handle sich dabei um Eingriffsnormen im Sinne des Art. 9 Absatz 1 der Rom I Verordnung. Die Regelungen zum Mindestlohn gelten folglich unabhängig davon, welches nationale Recht ansonsten auf das Arbeitsverhältnis anwendbar wäre. D.h. unabhängig davon, ob auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin und der Beklagten mitunter bulgarisches Recht anwendbar gewesen wäre, so gilt der deutsche Mindestlohn dennoch.
Gerügt wurde durch das BAG jedoch die Schätzung der geleisteten Arbeitsstunden. Hierbei habe das Berufungsgericht vor allem den Vortrag der Beklagten - insbesondere zu den vertraglich vereinbarten 30 Wochenarbeitsstunden - nicht ausreichend gewürdigt und sei zu Unrecht von 21 Stunden inklusive Bereitschaftszeit ausgegangen. Das Berufungsurteil war daher bereits deshalb aufzuheben. Doch auch die Revision der Klägerin hatte diesbezüglich Erfolg, welche sich dagegen wandte, dass das LAG ohne ausreichende, tatsächliche Anhaltspunkte von 3 Stunden Freizeit pro Tag ausging.
Aufgrund der fehlerhaften Erfassung und Aufklärung hinsichtlich der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden war das Berufungsurteil aufzuheben und an das LAG zurückzuverweisen. Dieses muss nun versuchen, den Sachverhalt weiter aufzuklären und insbesondere festzustellen, an wie vielen Stunden die Klägerin tatsächlich arbeitete oder im Rahmen der Bereitschaft verfügbar sein musste.
Update 06.09.2022
Mit Urteil vom 05.09.2022 hat das LAG Berlin-Brandenburg der Klage nunmehr fast vollumfänglich stattgegeben. Im Rahmen der Beweisaufnahme war das Gericht letztlich davon überzeugt, dass die Klägerin tatsächlich für rund 24 Stunden am Tag für die 90-jährige Dame im Einsatz war bzw. dieser jederzeit zur Verfügung stand. Die ständige Bereitschaft ging weit über die vereinbarten 30 Wochenstunden hinaus und sei demzufolge zu vergüten - und das nach dem Mindestlohn. Lediglich Stunden, in denen die Klägerin nachweislich mit Verwandten Essen war und Zeit verbrachte seien von der Vergütung ausgenommen.
Fazit
Das Urteil dürfte für den Pflegebereich gravierende Auswirkungen haben. Insbesondere das oft beworbene Model der 24-Stunden Betreuung durch vermeintlich billige, ausländische Fachkräfte dürfte somit finanziell betroffen sein. Nicht nur wurde der Mindestlohn für die Arbeitskräfte bestätigt, vielmehr wurde auch die grundsätzliche Bereitschaftszeit unter diesen Anspruch aufgenommen. Sofern die Pflegekräfte folglich im selben Haus/in der selben Wohnung wie die betreute Person wohnen und jederzeit mit einem Einsatz zu rechnen haben, so wäre diese Zeit wohl abzugelten. Dies dürfte zu den bisherigen Vergütungsmodellen nicht realisierbar sein, was letztlich zu einer deutlichen Preissteigerung führen könnte.
Doch auch andere Wirtschaftszweige dürften von dieser Entscheidung betroffen sein. Insofern kommen insbesondere Reinigungskräfte und Erntehelfer in Betracht, also all jene Bereiche, in denen ausländische Arbeitskräfte bisher möglichst billig eingesetzt wurden. All diese Branchen dürften sich durch diese Entscheidung wohl einem finanziellen Umdenken gegenüber sehen.